M. Kopeček (Hrsg.): Architekti dlouhé změny

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Titel
Architekti dlouhé změny. Expertní kořeny postsocialismu v Československu


Herausgeber
Kopeček, Michal
Erschienen
Anzahl Seiten
374 S.
Preis
398 Kč
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Eva Schäffler, Institut für Zeitgeschichte, München

Die Zeit nach dem Fall des Eisernen Vorhangs rückt immer stärker in den Fokus der Geschichtswissenschaft. Das Interesse liegt nicht nur auf den Veränderungen in den 1990er-Jahren, sondern gefragt wird auch nach Bezügen und Kontinuitäten zum Spätsozialismus.1 Eben diese Perspektive nimmt der besprochene Band ein, der die Rolle von Experten2 als „Architekten des langen Wandels“ – also des Übergangs vom Spät- zum Postsozialismus – in der Tschechoslowakei untersucht. Am Beispiel verschiedener Disziplinen zeigen die Beiträge, dass die Entwicklungen in den 1990er-Jahren von intellektuellen, mentalen und soziokulturellen Prägungen aus der Zeit des Spätsozialismus (mit-)bestimmt wurden. Damit widersprechen sie einer Grundannahme der sozialwissenschaftlichen Transformationsforschung, die den Ursprung dieser (häufig als neoliberal beschriebenen) Entwicklungen in erster Linie im Westen verortete.

Michal Kopeček widmet sich in seinem ersten Beitrag den Rechtswissenschaften. Er führt aus, dass sich das tschechoslowakische Rechtssystem gegen Ende der 1980er-Jahre immer mehr in Richtung eines sozialistischen Rechtsstaats mit deutlich autoritären Zügen entwickelte. Zu dieser Entwicklung hätten anfangs viele dem Regime nahestehende Juristen beigetragen. Später seien sie jedoch – wenn auch nur indirekt – an dessen Demontage beteiligt gewesen. Auf diese Weise hätten sie schon vor 1989 einen Wandel des Rechts- und Politikverständnisses angestoßen. Wie Kopeček erläutert, waren bei der Erarbeitung einer neuen Verfassung im Jahr 1992 jedoch keine prominenten, dem alten Regime nahestehenden Rechtswissenschaftler beteiligt. Bei anderen Gelegenheiten wurde allerdings durchaus auf ihre Expertise zurückgegriffen. Generell konnten die meisten von ihnen ihren Beruf weiter ausüben.

Im Fokus des Beitrags von Tomáš Vilímek stehen die Leiter großer Industriebetriebe. Beleuchtet wird unter anderem, welche Bedeutung die Wirtschaftsreformen in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre für diese Expertengruppe hatten. Vilímek zeigt auf, dass die Reformen, die den Betriebsleitern ein eigenständigeres Wirtschaften ermöglichen sollten, einen Loyalitätsverlust gegenüber dem Regime mit sich brachten. Während ältere Betriebsleiter die Reformschritte als zu liberal kritisierten und um ihre Privilegien fürchteten, wuchs bei jüngeren Betriebsleitern die Frustration, da ihnen das zugestandene Maß an Eigenständigkeit weiterhin als zu gering erschien. Viele Betriebsleiter behielten ihre Posten in den 1990er-Jahren, auch wenn sich die Rahmenbedingungen merklich veränderten. So standen sie mit den im Zuge der Kuponprivatisierung entstandenen Investitionsprivatisierungsfonds3 einer wichtigen neuen Kontrollinstanz gegenüber.

Der nächste Beitrag von Michal Kopeček und Václav Rameš beleuchtet, welche Rolle Theorien der Unternehmensführung vor und nach 1989 spielten. Etabliert hatten sich diese anwendungsorientierten, damals vor allem an den Bedürfnissen der Planwirtschaft ausgerichteten Theorien schon seit den 1950er-Jahren. Während des Spätsozialismus kam jedoch vermehrt die Idee eines sozialistischen Unternehmertums auf, und der Eigenständigkeit der Betriebe wurde eine größere Bedeutung beigemessen. In den 1990er-Jahren veränderten sich die Prioritäten weiter. Entscheidend war nun, dass die Betriebe Gewinn erzielten und konkurrenzfähig waren. Auf diesen Umstellungsprozess waren die tschechoslowakischen Management-Experten vergleichsweise gut vorbereitet, unter anderem, weil sie sich schon vor 1989 mit der Funktionsweise kapitalistischer Systeme auseinandergesetzt hatten. In den ersten Jahren nach dem Systemwechsel orientierten sich ihre Theorien noch stark an korporatistisch-keynesianischen Vorstellungen; ab etwa 1992 wurden diese immer mehr von neoliberalen Denkmustern abgelöst.

Anschließend beschäftigt sich Adéla Gjuričová mit der Entwicklung der Psychotherapie, die im Spätsozialismus noch ein Nischendasein fristete. Entsprechend gering war das Interesse des Regimes an der Disziplin, die somit im Vergleich etwa zu der verwandten Psychiatrie über größere Freiräume verfügte. Gjuričová kommt zu dem Ergebnis, dass die Psychotherapie bereits während der 1980er-Jahre verstärkt Zulauf erhielt, wodurch die Weichen für den fachlichen und kommerziellen Boom nach 1989 gestellt wurden. Die allgemeine Tendenz zu einem liberalen Individualismus schlug sich nun auch in der Psychotherapie nieder, die immer häufiger als Methode zum Selbstmanagement wahrgenommen wurde. Allerdings wurde es, wie Gjuričová feststellt, nach 1989 schwieriger, psychotherapeutische Tätigkeiten über das staatliche Gesundheitswesen zu finanzieren.

In einem weiteren Beitrag befasst sich Kopeček mit der Soziologie, einer im Staatssozialismus häufig als „unbequem“ und politisch unerwünscht wahrgenommenen Disziplin. Im Spätsozialismus wurde soziologisches Fachwissen und Knowhow aber immer gefragter, da das Regime sein Handeln nun vermehrt an wissenschaftlichen Expertisen ausrichtete. In diesem Zeitraum, so Kopeček, seien einerseits kritische Analysen erwünscht gewesen. Andererseits habe die (häufig unausgesprochene) Übereinkunft bestanden, dass die Kritik nicht über das Ziel hinausschießen würde. Nach 1989 erlebte die Soziologie eine Blütezeit, wobei ihr Verhältnis zum neuen demokratischen System nicht immer unkompliziert war. Zwar wollte die Disziplin ihre Unabhängigkeit wahren und sich nicht in den Dienst der Politik stellen, doch war man gleichzeitig frustriert, am Aufbau des neuen Staates zu wenig beteiligt zu werden. Einige Soziologen wechselten in die Politik, während andere in der Wissenschaft blieben oder ihre eigenen Sozialforschungsinstitute gründeten.

In seinem Beitrag über die Ökologie- bzw. Umweltbewegung betont Matěj Spurný, dass diese Gruppe sehr vielfältig war – sie reichte von den Mitgliedern der an einem naturnahen Lebens- bzw. Freizeitstil orientierten „Tramping“-Bewegung über einschlägig engagierte Dissidenten bis hin zu studierten Ökologen. Spurný erläutert, dass die Bewegung zwar einen wichtigen Beitrag zur Delegitimierung des Staatssozialismus leistete, nach 1989 aber schnell ihre politische Einfluss- und gesellschaftliche Mobilisierungskraft verlor. Die Ursachen dafür gingen Spurný zufolge noch auf den Staatssozialismus zurück: Unter anderem hatten die Umweltexperten bzw. -schützer keine Erfahrungen damit gesammelt, sich außerhalb des ideologischen Mainstreams zu positionieren, ohne marginalisiert oder kriminalisiert zu werden. Entsprechend teilten viele von ihnen den Standpunkt des alten Systems, die Ökologie müsse eine unpolitische, konsensual ausgerichtete Bewegung sein. Hinzu kam die Annahme, dass gute Ideen sich so oder so durchsetzen würden, weshalb man sich nicht in letzter Konsequenz für die eigenen Interessen einsetzte.

Im letzten Beitrag beschäftigt sich Petr Roubal mit der Rolle der Stadtplaner im Prag der 1980er- und 1990er-Jahre. Er kommt zu dem Schluss, dass deren Einfluss und Gestaltungsspielräume während des Staatssozialismus bislang unterschätzt wurden. Weiter zeigt er, dass stadtplanerisches Expertenwissen nach 1989 immer weniger berücksichtigt wurde. Die erheblichen städtebaulichen Veränderungen in Prag, u.a. das Ende des staatlich finanzierten Wohnungsbaus sowie eine deutliche Tendenz zur Suburbanisierung, seien jedoch nicht allein auf die allgemeine Hinwendung zu neoliberalen Denk- und Handlungsweisen zurückzuführen. Vielmehr seien sie auch von den Stadtplanern mitverursacht worden, die mit der Hinterfragung fachlicher Prinzipien und Vorgehensweisen bereits in den 1980er-Jahren ihrem eigenen Bedeutungsverlust Vorschub geleistet hätten. Nach 1989 stand die Stadtplanung dann vollkommen im Dienst der neuen politischen und wirtschaftlichen Eliten und unterlag einer strikten öffentlichen Kontrolle.

Die große Stärke des Bandes liegt darin, den Spät- und den Postsozialismus nicht getrennt voneinander zu betrachten, sondern den Bezügen und Kontinuitäten zwischen diesen Phasen anhand einer großen Bandbreite von Beispielen nachzugehen. Sicherlich waren nicht alle vorgestellten Expertengruppen entscheidende „Architekten des langen Wandels“. Alle Beiträge zeigen jedoch, dass die 1990er-Jahre nicht in erster Linie oder beinahe ausschließlich von aus dem Westen übernommenen Leitlinien oder Handlungsmustern geprägt wurden, sondern dass ihre Wurzeln zu einem beträchtlichen Teil in die spätsozialistische Vergangenheit zurückreichten. Dass der Band in der Tschechischen Republik viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, ist in jeder Hinsicht gerechtfertigt. 2020 war er für den Magnesia Litera, den wichtigsten tschechischen Literaturpreis, in der Kategorie Fachbuch nominiert.4

Anmerkungen:
1 Vgl. beispielsweise folgende neuere Sammelbände zu Ostdeutschland und dem östlichen Europa: Dierk Hoffmann (Hrsg.), Transformation einer Volkswirtschaft. Neue Forschungen zur Geschichte der Treuhandanstalt, Berlin 2020; Dierk Hoffmann / Ulf Brunnbauer (Hrsg.), Transformation als soziale Praxis. Mitteleuropa seit den 1970er Jahren, Berlin 2020.
2 Da in dem Band größtenteils auf die Nennung von männlichen und weiblichen Formen verzichtet wird, wird auch im Folgenden das generische Maskulinum verwendet. Mit der Rolle von (bestimmten) Experten(-gruppen) in der spätsozialistischen Tschechoslowakei hat sich Vítězslav Sommer bereits ausführlich beschäftigt, vgl. Vítězslav Sommer, Vom sozialistischen Postindustrialismus zur Marktgesellschaft: Zukunftsforschung in der Tschechoslowakei (1960er–1980er Jahre), in: Bohemia 57 (2017), 1, S. 55–81; Vítězslav Sommer et al., Řídit socialismus jako firmu. Technokratické vládnutí v Československu 1956–1989, Prag 2019.
3 Die sogenannte Kuponprivatisierung (kupónová privatizace) war ein zentrales Verfahren zur Privatisierung großer Staatsbetriebe in der Tschechischen Republik. Alle Staatsbürgerinnen und Staatsbürger konnte gegen eine Gebühr in Höhe von etwa einem Viertel eines durchschnittlichen Monatsgehalts Vouchers erwerben, die in einem Bietprozess für den Erwerb von Anteilen an Betrieben eingesetzt wurden. Dabei konnten die Bürgerinnen und Bürger entweder selbst tätig werden oder ihre Vouchers an sogenannte Investitionsprivatisierungsfonds (investiční privatizační fondy) weitergeben.
4 Siehe https://www.magnesia-litera.cz/rocnik/2020 (18.11.2021).

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